Raum greifen

Dr. Johanne Mohs

Samstag, 5.11.2022, Galerie Kulturboden Scharnebeck

Einführung mit Künstlerinnengespräch:

Sonja Koczula - Raum greifen

 

Ich würde gerne mit dem Titel beginnen, er ist so schön irritierend, und eröffnet gleich mehrere Zugänge zu Sonja Koczulas Arbeiten. Raum greifen. Erst einmal, auf der reinen Wortebene, kommt er ja durch wenige kleine Eingriffe am Material zu Stande: der erste Buchstaben groß geschrieben, eine kleine Lücke nach „Raum“, das „d“ am Ende getilgt. Hinter dem Titel, oder müsste ich sagen vor ihm, steht das Adjektiv „raumgreifend“. Es wird gerne in Zusammenhang mit Schritten verwendet: raumgreifende Schritte, Schritte, die ausholen, sich beherzt ihren Weg suchen, Raum brauchen, um sich entfalten und ihn hinter sich lassen zu können. Diese aktive, voranschreitende, Bewegung zehrende Bedeutung steckt nun ganz explizit im Titel und bekommt gleichzeitig etwas Bodenloses. Denn Raum (zu) greifen heißt ja nichts anderes als ins Leere zu greifen, Luft zu schnappen, allenfalls, eben nicht die Wände zu berühren oder Grenzen abzutasten, sondern sich durch oder in Lücken zu bewegen.

In einem Gespräch, das wir vor kurzem hatten, sprach Sonja von einer Unruhe, die vor ihren Bildern entstehen kann. Sie kann entstehen, wenn man versucht, die Formen, die darauf zu sehen sind, zu entschlüsseln – wenn man irgendetwas erkennen oder wiedererkennen möchte, nach Ähnlichkeiten sucht oder Bezugsobjekte aufdecken möchte. Auch wenn es naheliegt, die Formen als Zeichen zu betrachten – das Schwarz auf Weiß gibt ihnen etwas Zeichenhaftes – ist die Referenz von Sonjas Zeichenformen sehr fragwürdig. Sie stehen eben nicht für etwas anderes, wie gewöhnliche Zeichen. Sie greifen Raum und wer versucht, sie einem konkreten Referenten zuzuordnen, greift ins Leere. Und das einzusehen fällt, verständlicherweise, nicht jeder Betrachterin und jedem Betrachter leicht. Etwas benennen, einen Sinn erfassen oder ein Rätsel lösen zu können, macht Freude und kann Sicherheit geben.

Raum greifen Sonjas Bilder aber auch in einem direkteren, darstellenden Sinne. Die schwarzen Formen und Linien auf ihren Arbeiten bilden Umrisse, auch an Schatten erinnern sie manchmal. Durch ihr Zusammenspiel entsteht eine räumliche Tiefe. Es gibt Eingänge, Wege, Durchsichten – manche haben auch den Charakter von architektonischen Figur-Grund-Plänen. Zumindest von weitem betrachtet. Wer ganz nah an die Bilder herangeht, wird über die Oberflächenstruktur eine ganz andere Räumlichkeit wahrnehmen. Eine Räumlichkeit, die an Schichtungen erinnert und tatsächlich auch durch Schichtungen, genauer gesagt durch sehr viele Übermalungen, entstanden ist. Unter der weißen liegen viele bunte Schichten, die, wenn man genau hinschaut, mal mehr, mal weniger, durchscheinen und die Oberfläche räumlich wirken lassen. Die letzte, die weiße Schicht aufzutragen, würde sie immer erleichtern, sagt Sonja. Endlich kehrt Ruhe ein, keine Ablenkung mehr, die Farben werden gedämpft. Endlich Leerstellen, endlich Luft verschaffen, endlich Raum greifen können. Mit Sonjas Bildern, so scheint mir, wird sich ein Handlungsspielraum hart erarbeitet: Nicht das weiße Blatt oder die leere Leinwand ermöglichen die größte Bewegungsfreiheit, sondern die weißen Flächenräume am Ende, die Leerstellen, zu der sich die Künstlerin erst hingearbeitet hat, schaffen den gewünschten Handlungsspielraum.

Dieser mühsame Weg zum Weiß erinnert mich an eine meiner Lieblingsfiguren aus der französischen Literaturgeschichte, den englischen Adligen Perceval Bartlebooth aus Georges Perecs Roman Das Leben Gebrauchsanweisung (1978). Bartlebooth‘ Lebensprojekt besteht, sehr verkürzt dargestellt, darin, über 25 Jahre 500 Aquarelle an 500 verschiedenen Häfen auf der ganzen Welt zu erstellen. Diese Hafenansichten lässt er in einem aufwendigen Prozess zu Puzzles verarbeiten, die er nach seinen vielen Reisen, in seiner Pariser Wohnung wieder zusammensetzt; nur, um sie dann wieder an ihren Entstehungsort zurückzutragen, dort in Wasser zu tauchen und daraufhin ein weißes Blatt in den Händen zu halten. Ob das technisch möglich ist, und wenn ja, wie, sei dahingestellt, wenn überhaupt, dann sehr anders als bei Sonja. Bartlebooth‘ aberwitziges Lebensprojekt bleibt natürlich unabgeschlossen und seine Sehnsucht nach weißem Papier erfüllt sich nicht – es ging mir nur um die Komplexität des Weges dorthin, den ich auch bei Sonjas Arbeiten sehe.

In dem Titel der Ausstellung spiegelt sich auch das Aktive der Bilder, der Prozess, der in ihnen steckt, das Fortschreibende der Schichtungen, aber auch der Bilder untereinander. Die Schichtungen erinnern mich an Palimpseste – ein Schreib- oder vielmehr Wiederbeschreibungsverfahren aus dem frühen Mittelalter. Zu „palimpsestieren“ heißt, einen Schriftträger, damals vor allem Papyrus und Pergament, immer wieder neu zu beschreiben, den vorherigen Text abzuwaschen oder abzuschaben und dann einen neuen aufzutragen. Viele antike Schriften fielen diesem Verfahren zum Opfer, aber ganz ausradiert wurden sie eben nicht. Sie scheinen noch unter den jüngeren Texten durch und heute gibt es Techniken, mit denen die alten Texte wieder gelesen werden können.

Das Aktive, sich Fortsetzende des Titels, die Raum greifenden Schritte, sehe ich aber auch in den Bildern untereinander. Beim Betrachten der Bilder bekomme ich den Eindruck, dass es  eigentlich Varianten oder Variationen eines immer gleichen Prozesses sind und gleichzeitig frage ich mich, ob da etwas fortgeschrieben wird. Die Titel, oder besser: das Betitelungssystem der Arbeiten, legt dieses Fortschreiten auf einer nüchternen Ebene nahe. Die Bilder werden von der Künstlerin durchnummeriert und in eine Abfolge gebracht. Dadurch bekommt ihre Bezugnahme eine zeitliche Dimension, eins reiht sich an das andere.

Für ihre Formen oder Zeichen, greift Sonja aber auch auf eine Art Zettelkastensystem zurück, das Zeitlosigkeit suggeriert, ein Repertoire gefundener Formen, das sie immer wieder anders zusammensetzen kann. Sonja nennt diesen Baukasten ihren „inneren“ und ihren „äußeren Fundus“. Der innere Fundus besteht aus Formen, die sich ihr eingeprägt haben: Eindrücke aus der Lebenswelt, kontrastreiche Momentaufnahmen, die sie wahrnimmt und verinnerlicht. Der äußere Fundus besteht aus Formen, die Sonja aus Zeitungs- oder sonstigen Printmedienbildern generiert. Auch hier sind es die Umrisse, Konturen und Schattenwürfe, die ausschlaggebend dafür sind, dass sie sich für ein Bild interessiert und anfängt es zügig mit Gouache und Tusche zu übermalen. Es gibt also ein Inventar an gefunden Formen, aus dem Sonja immer wieder schöpft, eine Art Zettelkasten, mit dem Du arbeitest, Sonja.

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