Orangerie, Kunstverein Melle 2012

Dr. Rainer Beßling zur Ausstellung von
Sonja Koczula in der Orangerie, Kunstverein Melle, 17. Juni 2012

Blockhafte dunkle Formen heben sich von einem hellen Grund ab. Trotz wuchtiger Präsenz und plastischer Anmutung scheinen sie in einer schwebenden sanften Bewegung begriffen zu sein. Eine subtile Binnendifferenzierung bestimmt die Flächen. Auch wenn der kräftige Hell-Dunkel-Kontrast dies suggeriert, ist kein geschlossenes Schwarz aufgebracht, sondern ein subtil abschattiertes dunkles Braun. Eine Vielzahl von Farben schimmert auch durch die hellen Flächen. An manchen Rändern ist das untergründige Kolorit deutlich sichtbar. Stellenweise legt sich das abschließende Weiss nur lasierend auf die Schichtenfolge.


Lineare Spuren, graphische Kürzel, Andeutungen von Konturen, dünne Fäden, Tupfer, Schlieren flankieren die dunklen Flächen. Die dominierenden Formen erwecken den Eindruck einer konkreten Dinglichkeit, nehmen aber keine allgemein bekannte Gestalt an. Sie verbleiben in einem Stadium amorpher Anlagerungen, die nichts darstellen, sondern auf sich selbst verweisen. Kraftvoll behaupten sie ihre eigene Wirklichkeit. 


Es sind Gebilde, die den Prozess ihrer Entstehung in sich tragen, die präsent und transparent zugleich sind. Bewegung klingt nach, eine Bewegung im Raum, der als Schichtenfolge selbst prozesshaft auftritt. Die Formbildung wird als Ereignis und Entwicklung, weniger als Ergebnis und Fixierung sinnfällig. In einem Text nennt Sonja Koczula die zentralen Themen ihrer Arbeit: Was sie interessiert, ist die Auseinandersetzung mit Zeichen und Spuren, die Dynamik selbst entwickelter Zeichenformen und Symbole. Ihre Formierungen sind Formulierungen über Gesehenes und Entwürfe von Verständnis und Verständigung zugleich. 


Zeichen beruhen auf einer Konvention und bieten sich einer Übereinkunft an.
Spuren sind Relikte und Dokumente eines Ereignisses und Prozesses.
Sie zeugen von einem Geschehen und einem Akteur, weisen Wege, stecken Flächen ab, beschreiben Bewegung im Raum und bringen damit den Faktor Zeit mit ins Spiel. „Jedem Zeichen ist eine bestimmte Bedeutung zugeordnet, die sich erschließen lässt, indem wir die Spur zurückverfolgen, mit der beide, Zeichen und Bedeutung, verbunden sind“, schreibt die Künstlerin.
Zeichen setzen, Spuren verfolgen, das ist das Kerngeschäft der Zeichnung, die schon immer Abstraktion war, bevor der Begriff als Losung und Verfahren der Moderne etabliert wurde. Der eigensinnige Kunsthistoriker Jean Clair bringt in seinen Polemiken gegen ästhetische Moden gern die Zeichnung in Stellung : „Alles beginnt mit der Zeichnung, mit ihr kann alles neu beginnen.“
Zeichnen heißt an den Anfang gehen, an den Beginn des Verstehens, an den Anfang der Wahrnehmung, an den Anfang der Darstellung. 


Clair : „Als rudimentärer Dialog, als Methode zur Erkennung des anderen gehört also die Zeichnung immer zum Anfang einer Welt, berührt sie immer Neuland. Die Zeichnung, der Fußabdruck von Freitag im Sand des Strandes, an dem Robinson erkennt, dass er nicht allein ist. Die Zeichnung, der Umriss eines Menschenpaares auf einer Metallplatte an Bord einer Raumsonde, dazu bestimmt, den Wesen einer unbekannten Milchstraße zu offenbaren, dass das Universum bewohnt ist.“ Zeichnen ist das Bemühen, auch in schwierigen Zeiten Spuren zu lesen und zu legen. Die Welt war noch nie heil, aber solange sie ablesbar blieb, konnte versucht werden, mit ihr umzugehen. 


Sonja Koczula gelangt auf zwei unterschiedlichen Wegen zu ihren Kompositionen: Auf der einen Seite handelt es sich um eine freie, offene Formfindung, häufig auf der Basis von Skizzen, die einen Fundus von Formulierungen, sozusagen ein eigenes Wörterbuch, bilden. Linien und Formen werden aus einer Bewegungsgeste heraus entwickelt, ein gespeichertes Repertoire wird aktualisiert und korrespondiert mit dem immer wieder neuen Aufbau der Figurationen und dem Verlauf der Linien in jedem einzelnen Werk. 


Das zweite Verfahren schließt an die Überarbeitung gefundener Medienbilder an, vor allem an Fotografien in Zeitungen und Zeitschriften. Die Übermalungen sind teils autonome Werke, dienen vor allem aber als Vorlagen für Bilder und Blätter. Dabei finden bevorzugt solche Fotos Verwendung, die schon blockhafte Formen zeigen, Schattenrissen ähnlich, mit klaren Konturen und mit gewichtiger Präsenz. Klassische Grundformen mit chiffrenhafter Aufladung wie Stuhl oder Leuchter werden aufgegriffen, Archetypen des Alltags. Die Künstlerin baut ihre Bilder also stets auf vermittelter Realität auf, arbeitet nicht vor dem Gegenstand oder der Natur. 


Die Geste spielt in Sonja Koczulas Bilder eine bedeutende Rolle. Eine dynamische Schrift und bewegte Spur prägen vor allem die in freien Setzungen entstandenen Arbeiten. Die Strichführung von feinsten Fäden bis zu breiten  Bahnen aktiviert in einem großen Spektrum an Stofflichkeit, im Vibrieren der Lineaturen elementare Empfindungen. Gestik heißt aber nicht spontane Entäußerung, ist nicht das Protokoll psychischer Befindlichkeiten, sondern zeichnerische Bewegung, skripturale Niederschrift. Er herrschen nämlich gleichzeitig Planung und Kontrolle. Die Arbeiten entstehen in einem langen Prozess mit vielen Übermalungen. Nicht vorrangig emotionale Impulse spielen eine Rolle, sondern formale Anregungen und gedankliche Regungen.


Die Zeichnung ist sicher das Ausdrucksmittel der Improvisation nach subjektiven Bedürfnissen und auf der Basis eines individuellen Repertoires an Patterns. Zeichnen als Entwicklung von Zeichen ist aber auch Entscheidung und Filter, rationale Zielsetzung und strukturierter Plan. Ein aufmerksamer Blick wählt aus und fügt zusammen, unterscheidet und vermischt, sondert aus und gliedert. Der Vorgang der zeichnerischen Umsetzung, der Zeit und Konzentration braucht, gräbt sich in das Gedächtnis ein. Die Entäußerung der Zeichen ist zugleich ihre Einverleibung. Diese körperhaft-sinnliche und gedankliche Intensität vermittelt sich in der Betrachtung.


Ein dialogisches Prinzip, das sich durch die Arbeiten von Sonja Koczula zieht, ist bereits durch den prägenden Hell-Dunkel-Kontrast eingeführt. Malerei und Zeichnung werden häufig parallel geführt und in ein Wechselgespräch verstrickt. Farben sind im Laufe der Entwicklung von Sonja Koczulas Werk buchstäblich in den Hintergrund getreten. Grafische Momente dominieren zwar, dennoch beinhalten die Bilder einen großen Reichtum an malerischen Momenten. Die Konzentration und Reduktion, die im Hell-Dunkel-Kontrast erreicht werden, öffnen gleichzeitig Raum für Projektion und Assoziation.


Mit ihren Kontrasten und Kontrapunkten zielt die Künstlerin auf ein Übergangsstadium, einen Zwischenzustand, einen Moment der Irritation, wenn ein „vehement und bestimmt gesetztes Zeichen“, wie sie es selbst formuliert, scheinbar an Gesehenes erinnert und Fragen nach einer vermeintlich bekannten Bedeutung aufwirft. Der Betrachter ist herausgefordert, einen Grat zwischen Klärung und Rätsel auszuhalten. 

Die Formen fordern einen eigenen Modus der Lektüre und der „Deutung“ heraus. Es geht nicht um Wiedererkennen, sondern um die Annäherung an einen sinnliche Wahrnehmung einschließenden Zeichenkörper, der mit Form und Farbe, in Fragmentcharakter und Prozessualität eine eigene Sprache spricht. Das Zeichen hält die Bedeutung in der Schwebe und das Verstehen im Fluss. Die Künstlerin setzt den Betrachter auf eine Spur und schickt ihn auf eine Reise durch das Bild. Fremdes kann auf dieser Expedition vertraut werden, Vertrautes im Gepäck erfährt durch das Eintauchen in ein anderes Zeichensystem eine Neubesichtigung, Wahrnehmung organisiert sich neu. Dass die Öffnung ein weit größeres Abenteuer und eine größere Herausforderung als der Abschluss, hat Degas einmal prägnant formuliert.
Zu einem  ausgearbeiteten Werk sagte er: „Es ist vielleicht vollendet, aber sicher nicht angefangen.“


Zeichnung bildet nicht ab, sondern setzt selbst: „Hockney hat derart einleuchtende Formulierungen in seinen Zeichnungen von kalifornischen Swimmingpools gefunden, dass ich nie wieder ein Schwimmbad betreten kann, ohne es mit seinen Augen zu sehen“, schreibt der Zeichner Hans Traxler. Die Bilder, die Künstler in die Welt setzen, müssen nicht notwendigerweise Abbilder sein, damit wir die Wirklichkeit erkennen. Sie dürfen oder sollten vielmehr Abstraktionen oder auch eigenständige Setzungen sein, damit wir Realität in ihrer Signifikanz und Prägnanz, in ihrem Wesen und ihrer Magie sehen lernen. 


Eine Werkgruppe, die Sonja Koczula mit in die Ausstellung gebracht hat, basiert auf Landkarten. Es sind gleichermaßen Ausschnitte und Abstraktionen. Die Künstlerin beschafft sich Kartenmaterial von Orten, die sie bereist, an denen sie arbeitet oder ausstellt, die ihr etwas bedeuten.
Die unterschiedliche Charakteristik der Orte schlägt sich in den Zeichnungen deutlich nieder. Es ist etwas anderes, ob Finnland oder Japan kartiert sind. Linien sind in den Kartenzeichnung herausgelöst, die Karten ihrer Orientierungsfunktion enthoben. Landschaft klingt an, Wege sind markiert, Ansichten angedeutet, doch auch hier eher als eine körperlich-sinnliche Ausmessung des Raumes, als Dokument von Bewegung, als abstrahiertes Erfahrungsprotokoll und als eine filigran vibrierende Signatur der Topographie. 


Ein Beitrag des Philosophen Christoph Menke in der aktuellen „Zeit“, der seinen documenta-Einsatz begleitet, hat mich an die Arbeiten Sonja Koczulas denken lassen:

„Ein Kunstwerk kann nur etwas darstellen, indem es eine Form herstellt. In der Kunst geht es um das Machen von Formen. Der Grund und der Anfang der Formwerdung, die das Kunstwerk ist, kann aber nur das Formlose sein.
...so ist der Tanz der Striche, den Jasper Johns‘ Bilder aufführen, nicht gestisch, nicht Ausdruck eines Inneren, sondern das Spiel, in dem Ordnungen zugleich gebildet und aufgelöst werden.“ Und noch ein Potenzial steckt in diesen Kompositionen: „Die  Selbsthervorbringung der Form in der Kunst ist frei, weil sie aus Freiheit, aus der Freiheit des Formlosen heraus, geschieht.“

 

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