Fragment + Chiffre, Galerie GraeserSchmidt, Köln 2015

Peter Lodermeyer
zur Ausstellung Fragment + Chiffre
Galerie GraeserSchmidt, Köln 2015

„Ein Zeichen sind wir, deutungslos“ – so beginnt die zweite Fassung von Friedrich Hölderlins letzter, wohl 1802 entstandener Hymne „Mnemosyne“. Wie auch immer diese Deutungslosigkeit zu deuten ist (an tiefsinnigen Interpretationen der Textstelle herrscht kein Mangel): die Tatsache, dass für uns Menschen das Zeichen „Mensch“ unabschließbar offen bleibt, d. h. in keiner endgültigen Definition aufgehen kann, scheint letztlich der Grund dafür zu sein, dass wir ein so großes Bedürfnis nach „deutungslosen Zeichen“ überhaupt haben. Der bevorzugte Ort solcher Zeichen aber ist die Kunst. Die Formen, die Sonja Koczula in ihren Gemälden hervorbringt, nennt sie selbst Chiffren und Fragmente. Chiffren wofür? Fragmente wovon? Die kompakten schwarzen Zeichen bieten – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – keinerlei Anhaltspunkt für eine mögliche Dechiffirierung. Die fragmentarischen Formen lassen auf keine benennbare Einheit schließen, die ihrer Fragmentierung vorausgegangen wäre. Sonja Koczulas malerische und graphische Zeichen entziehen sich dem alltäglichen Zeichenbegriff, demzufolge ein Zeichen immer auf etwas Bestimmtes verweist wie etwa das Wort „Baum“ auf einen realen Baum.

Ein Teil von Koczulas Arbeiten ergibt sich aus einem Transformationsprozess von Zeitungs- und Zeitschriftenfotos. Motive, deren Formen der Künstlerin aufgefallen sind, die eine Resonanz erzeugen und nach einer malerischen Reaktion verlangen, übersetzt sie durch sukzessive Verdichtung und Abstraktion, das Weglassen von Binnendetails und das Herauspressen des perspektivischen Raums in Malerei, in prägnante schwarze Zeichen. Es sind abstrakte Grapheme, die von jedem gegenständlichen Bezug unabhängig geworden sind, der ja auch schon in den photographischen Zeichen der Medienbilder nur mittelbar vorhanden war. So schafft sie Chiffren im ursprünglichen Sinne dieses Wortes, das sich von dem arabischen sifr herleitet, welches „leer“ bedeutet und im 13. Jahrhundert als das Zahlzeichen Null („cifra“) in die westliche Mathematik Eingang fand. Als semantische Null- und Leerzeichen sind Sonja Koczulas Chiffren „deutungslos“, was jedoch keineswegs bedeutet, dass sie den Betrachter nicht nachdrücklich dazu auffordern, sich um eine mögliche Lesart zu bemühen. Aus der Spannung zwischen der präzisen ideogrammartigen Form und ihrer gleichzeitigen Unausdeutbarkeit, die den Willen zur Entzifferung immer wieder ins Leere laufen lässt, ergibt sich in der Betrachtung eine Spannung, in der die komplexe Funktion von Zeichenproduktion und Zeichenverstehen selbst thematisch wird.  

Der andere Teil der Arbeiten entsteht als freie Formenfindung in einem intuitiven, vielschichtigen Malprozess, der gleichwohl nicht voraussetzungslos stattfindet, sondern im Rückgriff auf ein Formenrepertoire, das sich Sonja Koczula über die Jahre in zahlreichen Skizzen erarbeitet hat. Im Unterschied zu den weitgehend klar konturierten Chiffren sind diese Arbeiten vom malerischen Duktus her ungemein dynamisch. Dies zeigt sich in einem offeneren, porösen Strich und in einem vielschichtigen Spiel von Offenlegung und Verdeckung der Linien und Flächen. Figur und Grund werden schwerer unterscheidbar, Teile der Zeichen scheinen in die Grundfläche einzusinken, andere eben aus ihr aufzusteigen. Die Farbe, die in gewissen Arbeiten vom Weiß überdeckt, zurückgehalten wird und nur als Spur zu ahnen ist, bricht in anderen Bildern eruptiv an die Oberfläche. Der Malprozess wird durch diese Dynamik in seiner Zeitdimension sichtbar, die „Deutungslosigkeit“ der Zeichen wird anschaulich als zeitlicher Prozess von Entstehen, Veränderung und potenziellem Verschwinden der Formen.  

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